Märchenabend in Aurich: Ein unvergesslicher Abend voller Geschichten und Magie
Märchenabend am 30. Oktober in der Reformierten Kirche Aurich

Märchenabend in Aurich voller Erfolg
Am 30. Oktober 2024 fand in der Evangelisch-Reformierten Kirche Aurich ein Märchenabend statt, der von mehr als hundert begeisterten Besuchern besucht wurde. Gastgeber der Veranstaltung war Pastor Jörg Schmidt, der nicht nur als Gastgeber, sondern auch als Märchenerzähler auftrat.
Pastor Jörg Schmidt ist ein engagierter Gemeindepfarrer, der sich nicht nur der Seelsorge widmet, sondern auch eine Leidenschaft für das Erzählen von Märchen entwickelt hat. In einer zweijährigen Langzeitfortbildung der Europäischen Märchengesellschaft hat er sich zum freien Märchenerzähler ausbilden lassen.
Ein Höhepunkt des Abends war der Auftritt von Sabine Lutkat. Sie ist eine herausragende Märchenerzählerin und Präsidentin der Europäischen Märchengesellschaft. Mit über 20 Jahren Erfahrung in der Erwachsenenbildung und als freiberufliche Märchenerzählerin hat sie sich einen Namen gemacht. Ihre Vortragsweise ausgesuchter friesischer Märchen ist tiefgründig und thematisch vielfältig, was sie zu einer beliebten und geschätzten Erzählerin macht. Ihr Auftritt verzauberte das Publikum und trug wesentlich zur magischen Atmosphäre des Abends bei.
Die Veranstaltung begann mit einer Einführung in die Märchenthematik durch Dr. Welf-Gerrit Otto, der aus kulturanthropologischer Perspektive in die Thematik einführte. Seine Expertise und seine Begeisterung für Märchen haben den Abend mit einem wissenschaftlichen und kulturellen Kontext bereichert.
Die Zuhörer waren begeistert von den Geschichten und der Atmosphäre des Abends. Die musikalische Begleitung durch Edda Liebermann-Pauen (Akkordeon) und Anja Lütke-Notarp (Klarinette) hat die Erzählungen noch weiter in den Zauber des Abends gezogen.
Die Veranstaltung war ein voller Erfolg und es wurde bekannt gegeben, dass der Märchenabend 2025 an verschiedenen Orten in Ostfriesland fortgesetzt wird. Die positive Resonanz der Zuhörer zeigt, dass das Erzählen von Märchen weiterhin eine wichtige Rolle in der Gemeinschaft spielt und Menschen aller Altersgruppen anspricht.
Friesische Märchen: Zwischen Meer und Moor
Die erste Erwähnung der Friesen (Frisii) taucht bei den Römern Plinius dem Älteren und Tacitus im ersten Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung auf. Beschrieben wird mit diesem Begriff eine kulturell heterogene Gruppe, die in der Antike beidseitig der Rheinmündung siedelte. Eine Kontinuität der „Frisii“ des Tacitus zu den Friesen ab dem Jahr 500 wird heute von der Wissenschaft abgelehnt. Im Kern hat sich eigentlich nur der Gebietsname bewahrt.
Durch die Völkerwanderung in der Spätantike kamen neue Bevölkerungsgruppen in die als Friesland besiedelte Region. Die Quellenlage zu den Friesen wird vom 4. bis 7. Jahrhundert sehr dünn. Archäologische Funde lassen darauf schließen, dass die Bevölkerungszahlen um 300 massiv zurückgegangen sind und dass sich höchstens eine Restbevölkerung gehalten hat. Das Gebiet wurde um das Jahr 500 größtenteils durch einen starken Zuzug aus den umliegenden angelsächsischen Stammesgruppen neubesiedelt.
Im frühen Mittelalter existierte dann ein Königreich Friesland, das sich über einen engen Küstenstreifen an der Nordsee von Brügge über das Rhein-Maas-Delta bis zur Wesermündung erstreckte. König Radbod gilt als sein populärster Herrscher. Die Franken setzten dem Königreich Friesland ein Ende. Es folgten die Jahre der Friesischen Freiheit und die Häuptlingszeit. Dann kamen die Grafen, später die Welfen und dann die Preußen.
Nach dem zweiten Weltkrieg siedelten viele der insgesamt 15 Millionen Heimatvertriebenen aus den deutsche Ostgebieten in den friesischen Gebieten von Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Seit dem 21. Jahrhundert, insbesondere seit der großen Flüchtlingsbewegung 2015, kommen vermehrt Migranten aus dem globalen Süden in die Region. Heute handelt es sich bei Friesland um ein vielfältigen kulturellen Einflüssen ausgesetztes Gebiet in Deutschland und den Niederlanden.
Obwohl die Bevölkerung sich im Laufe der Geschichte verändert hat, ist eine gesamtfriesische Identität durchaus vorhanden. Diese speist sich aus zweierlei Quellen:
- Quelle: Aus der besonderen historischen Entwicklung Frieslands, welche einen in Europa einzigartigen Sonderweg gegangen ist: Friesische Freiheit und Ausbleiben des Feudalsystems über Jahrhunderte sind nur zwei von zahlreichen Beispielen.
- Quelle: Aus der naturräumlichen Prägung: Das Wattenmeer als weltweit einzigartige Landschaft sowie die breiten Moorgürtel des Hinterlandes wirkten sich unmittelbar auf die historische Entwicklung, beispielsweise durch Moorkolonisation, Landgewinnung und Küstenschutz aus.
Was die friesischen Erzählstoffe, also auch die hiesigen Märchen betrifft, bestehen zwischen diesen beiden identitätsstiftenden Aspekten regionaler Besonderheit durchaus Wechselwirkungen. Für die Erzählgattung der Märchen gilt dies insbesondere für den Erlebnisraum und die Themen Meer und Küste. Friesische Märchen sind ein faszinierendes Thema, das tief mit der Natur, Kultur und Geschichte der Region verwurzelt ist.
Märchen, die anfänglich mündlich überliefert wurden, und im Zuge der von den Brüdern Grimm inspirierten Märchensammlungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verschriftlicht wurden, spiegeln nicht nur die Lebensweise und die Werte der Bevölkerung wider, sondern bieten auch einen reichen Fundus für die kulturanthropologische Erzählforschung. Besonderheiten friesischer Märchen sind also durchaus vorhanden. In vielen Aspekten ähneln die per definitionem raum- und zeitlosen Geschichten allerdings auch Märchen der benachbarten Regionen.
Die Merkmale friesischer Märchen zeichnen sich dementsprechend sowohl durch Eigenheiten als auch durch Entsprechungen zu anderen Märchentexten Mittel- und Nordeuropas aus:
- Regionalität und Identität: Friesische Märchen sind stark mit der Region verbunden, in der sie erzählt werden. Die friesische Landschaft und das Meer spielen nicht selten eine Rolle in den Geschichten. Diese geopoetischen Elemente prägen die Erzählungen und tragen zur Identität bei.
- Mündliche Überlieferung: Viele friesische Märchen wurden über Generationen hinweg mündlich überliefert. Diese Form der Erzählung ist nicht nur ein Mittel zur Unterhaltung, sondern auch ein Weg, Wissen, Werte und Traditionen weiterzugeben. Die mündliche Tradition ermöglicht es den Erzählungen, sich im Laufe der Zeit zu verändern und anzupassen, was sie dynamisch und lebendig hält.
- Mythologische und folkloristische Elemente: In friesischen Erzählungen finden sich häufig mythologische Figuren und folkloristische Motive, die tief in der norddeutschen und skandinavischen Mythologie verwurzelt sind. Wesen wie Wassergeister, Elfen oder andere übernatürliche Kreaturen sind häufige Protagonisten insbesondere in den regionalen Sagen. Sie spiegeln die Beziehung der Friesen zur einstmals übermächtigen Natur und zu übernatürlichen Kräften wider.
- Moralische Lehren: Wie viele Märchen enthalten auch friesische Erzählungen moralische Lehren. Sie vermitteln Werte wie Gemeinschaftssinn, Respekt vor der Natur und die Bedeutung von Traditionen. Diese Lehren sind oft in die Handlung integriert und bieten den Zuhörern nicht nur Unterhaltung, sondern auch eine Reflexion über das eigene Leben und die Gesellschaft.
- Niederdeutsche Sprache: Sprache der friesischen Märchen ist nicht selten das Ostfriesische Platt. Der Gebrauch des Niederdeutschen ist nicht nur ein Ausdruck der regionalen Identität, sondern auch ein Mittel, um die kulturellen Nuancen lebendig zu machen.
Märchen sind Spiegel der Gesellschaft, in der sie eingebettet sind. Die kulturanthropologische Erzählforschung bietet einen tiefen Einblick in die Bedeutung und Funktion von Märchen innerhalb der Gesellschaft. Hier sind einige zentrale Aspekte, die in diesem Kontext betrachtet werden können:
Soziale Funktionen von Märchen: Märchen dienen nicht nur der Unterhaltung, sondern erfüllen auch wichtige soziale Funktionen. Sie fördern den Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft, indem sie gemeinsame Werte und Normen vermitteln. In vielen Fällen werden Märchen bei festlichen Anlässen oder in familiären Zusammenkünften erzählt, was ihre Rolle als Bindeglied zwischen Generationen und als Mittel zur Stärkung der Gemeinschaft unterstreicht.
Identitätsbildung: Die Erzählungen tragen zur Identitätsbildung der friesischen Bevölkerung bei. Sie reflektieren die spezifischen Lebensumstände, Herausforderungen und Traditionen der Küstenbewohner. Durch die Auseinandersetzung mit diesen Geschichten können Individuen und Gemeinschaften ein Gefühl der Zugehörigkeit und des kulturellen Erbes entwickeln. Die Märchen fungieren als kulturelle Archive, die das kollektive Gedächtnis der Region bewahren.
Wandel und Anpassung: Die kulturanthropologische Perspektive betrachtet auch, wie sich Erzählstoffe im Laufe der Zeit verändert haben. Die Einflüsse von Modernisierung, Globalisierung und Migration haben dazu geführt, dass viele traditionelle Erzählungen neu interpretiert oder mit zeitgenössischen Themen angereichert werden.
Symbolik und Bedeutung: Die Symbolik in friesischen Märchen ist oft vielschichtig. Naturphänomene, wie das Meer oder die Gezeiten, werden häufig als Metaphern für menschliche Emotionen und Erfahrungen verwendet. Die Erzählungen laden dazu ein, über die Beziehung zwischen Mensch und Natur nachzudenken und die Herausforderungen, die das Leben mit sich bringt, zu reflektieren. Diese symbolischen Elemente sind ein wichtiger Bestandteil der kulturanthropologischen Analyse, da sie tiefere Einsichten in die Weltanschauung der Bevölkerung ermöglichen.
Interkulturelle Einflüsse: Die friesische Kultur ist nicht isoliert, sondern steht in einem ständigen Austausch mit Einflüssen von außerhalb. Kulturen sind per se nicht statisch, sondern unterliegen einem anhaltenden Wandel. Mit Heraklit gesprochen: „Alles fließt“. Die Vorstellung, dass eine Volksgruppe über ganz eigene und besondere, seit jeher vorhandenen Eigenschaften verfüge, ist ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund von Nationalstaatenbewegung und Regionalismus.
Fazit: Menschen brauchen Märchen
Denn Märchen spielen eine entscheidende Rolle in der emotionalen, moralischen und kreativen Entwicklung und dienen gleichzeitig der Überlieferung historischen Wissens und der Identifikation mit und der Freude über den eigenen Wohnort. Indem die Geschichten eine Beziehung zwischen Mensch und Raum herstellen, schaffen sie ein Bewusstsein von Verantwortung für die eigene Region.
Welf-Gerrit Otto (Regionale Kulturagentur der Ostfriesischen Landschaft)
In diesem Beitrag erwähnt
Regionale Kulturagentur der Ostfriesischen Landschaft
Kunst und Kultur für eine lebenswerte Zukunft
Europahaus Aurich
Deutsch-Niederländische Heimvolkshochschule e.V.